28.08.2020

„Staaten und der Finanzsektor sind der Schlüssel“

PAque das Aguas in Campinas in Brasilien
Im brasilianischen Campinas verbessert INTERACT-Bio das Verständnis von Biodiversität in den Städten. Foto: Carlos Bassan

Oliver Hillel vom CBD-Sekretariat im Interview über die Rolle von Städten für den Klima- und Biodiversitätsschutz.

Städte sind für mehr als zwei Drittel der weltweiten menschengemachten CO2-Emissionen verantwortlich. Gleichzeitig sind sie besonders sensibel für die Auswirkungen des Klimawandels. Doch wie können Städte klima- und umweltfreundlich werden? Das IKI-Projekt „INTERACT-Bio: Integrierte, subnationale Maßnahmen für Biodiversität“ setzt dazu in drei Städten in Brasilien, Tansania und Indien auf naturbasierte Lösungen. Gleichzeitig verbessert es mit effektiven Kommunikationswerkzeugen das Verständnis der Menschen vor Ort zu den Zusammenhängen zwischen Ökosystemen und einem lebenswerten Alltag in urbanen Zentren. Ein Interview mit dem Projektbeirat und Mitarbeiter des CBD-Sekretariats Oliver Hillel über die Projektarbeit auf drei Kontinenten.

Herr Hillel, viele Menschen haben den Kontakt zur Natur verloren, vor allem in den Städten. Wie gelingt es, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Ökosystemdienstleistungen und ihr Schutz wichtig für den Menschen sind?

Oliver Hillel: Dies ist eines der größten Paradoxe einer Welt, die mit COVID-19 leben muss: Die städtische Lebensqualität ist wie nie zuvor durch den Rückgang der Biodiversität bedroht, doch die Stadtbewohner wissen nur wenig über den großen Nutzen von Ökosystemdienstleistungen und ihre eigene große Abhängigkeit von der Natur.

Alles, was wir essen, geht auf Biodiversität zurück. Sauberes Trinkwasser ist zehnmal billiger, wenn es durch verschiedene Feuchtgebiete gereinigt wurde und dabei die Klimaresilienz, die Fruchtbarkeit des Bodens außerhalb der Städte und die Wassersicherheit verbessert hat. Die Art und Weise, wie wir in den Städten und auf dem Land arbeiten, sowie unsere täglichen Kauf- und sonstigen Entscheidungen beeinflussen Wälder und Meere, die mehrere Tausend Kilometer von uns entfernt sind. Doch wir haben nur sehr wenig Ahnung davon, und dieses fehlende Bewusstsein hat dazu beigetragen, dass wir uns jetzt in einer Klima-, Wirtschafts- und Biodiversitätskrise befinden.

Genau deshalb ist das Projekt INTERACT-Bio der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI) so wichtig: INTERACT-Bio wird in den wichtigsten Städten von drei megadiversen Ländern durchgeführt und von ICLEI mit Unterstützung des Sekretariats der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) geleitet. INTERACT-Bio leistet einen wichtigen Beitrag zur Erprobung von Instrumenten, mit denen Menschen sensibilisiert und eine partizipative Planung sowie ein sinnvoller Umgang mit der Natur in und für die Städte gefördert werden sollen. Das IKI-Projekt arbeitet mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen und klärt sie über Zusammenhänge und Abhängigkeiten auf. Wenn zum Beispiel Stadtplaner in Campinas in Brasilien oder im indischen Kochi gemeinsam eine interaktive Karte der Vorzüge und Vorteile erstellen, die die Natur ihrer Stadt bietet, und diesen Nutzen mit den besten zur Verfügung stehenden Monitoring-Instrumenten messen, werden sich ganz automatisch neue Lösungen ergeben.

INTERACT-Bio setzt dabei beispielsweise auf gut gestaltete Biodiversitätskarten. Welche Vorteile bieten solche Kommunikationstools?

Die Erstellung von Karten ist eine soziale Anstrengung, bei der Raum, Zeit und Ressourcen zur Erreichung von Gütern und Dienstleistungen miteinander verbunden werden. Karten sind Fahrpläne für die Menschen. Dabei handelt es sich um eine Kartierung und Dokumentation des menschlichen Wissens, und nicht etwa von landschaftlichen Gegebenheiten. Bei der Erstellung von Karten müssen möglichst viele Menschen eingebunden werden, damit die Bedürfnisse und Erwartungen aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden können.

Mit Kommunikationswerkzeugen wie diesen, die im Rahmen der ICLEI-Projekte INTERACT-Bio und UNA Rivers entwickelt wurden, können komplexe Themen und Informationen in leicht verständlicher Form, grafisch aufbereitet und mit klarer Botschaft präsentiert werden. Dadurch lassen sich die Entscheider in den Städten leichter erreichen. Diese Methoden wurden bereits in verschiedenen Kontexten erfolgreich eingesetzt. Dabei wurden maßgeschneiderte Informationen mit Beiträgen örtlicher Experten zusammengeführt. Auf dieser Grundlage können Kommunen und Städte fundierte Entscheidungen über die Verwaltung von und Investitionen in Grünflächen sowie über die grüne und blaue Infrastruktur treffen. Die im Rahmen des INTERACT-Bio-Projekts durchgeführten Bewertungen und Kartierungen sollen weit über die Projektlaufzeit hinaus genutzt werden, um ein Bewusstsein für die Natur und ihren Wert in und für die Projektstädte zu schaffen. Dadurch sollen die Verantwortlichen in den Kommunal- und Stadtverwaltungen sowie die Öffentlichkeit dazu gebracht werden, die in den Städten vorhandene Natur zu schützen und sie gezielt zu nutzen.

Worin liegen Ihrer Meinung nach die Vorteile, die naturbasierte Lösungen (NbS) insbesondere Städten bieten?

Im engeren Sinne der Klimaverhandlungen und gemäß seiner ursprünglichen Definition bedeutet das Konzept „naturbasierte Lösungen“, wie es von der IUCN vorgeschlagen wurde: „Maßnahmen zum Schutz, zur nachhaltigen Bewirtschaftung und zur Wiederherstellung von natürlichen oder veränderten Ökosystemen, die wirksam und anpassungsfähig zur Bewältigung von gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen und gleichzeitig dem menschlichen Wohl und der biologischen Vielfalt zugute kommen“. In dieser Definition liegt der Schwerpunkt auf der Bewirtschaftung von Ökosystemen. Inzwischen wurde das Konzept jedoch erweitert, so dass es alle auf gesellschaftliche Veränderungen gerichteten Maßnahmen umfasst, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktion und Leistung sowie die Vorteile und Abhängigkeiten zwischen Natur und Mensch angestoßen wurden und auf diesen aufbauen.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse gehen über eine reine Bewirtschaftung der Natur zum Nutzen aller hinaus. Bereits jetzt geht es in der Diskussion um Schwammstädte und den städtischen Stoffwechsel. Wir sollten jedoch auch - und verstärkt - über Korallenriff- und Regenwaldstädte sprechen. Für das IKI-Projekt und die Nachfolgevorhaben bedeutet NbS, dass die Natur mit allen Voraussetzungen und Möglichkeiten, die sie für unsere Entwicklung und unser Wohlergehen bietet, aber auch mit allen Grenzen, die sie uns setzt, in das Gefüge der Stadt eingebunden werden muss: in die Planung, Entwicklung, Bewirtschaftung und Überwachung der Infrastruktur und des Budgets; in alle Konzepte und Standards für Städte und den ländlichen Raum; in alle Analysen von kritischen Projektpfaden sowie in alle Landschaftspläne und Finanzflussdiagramme.

Wer sind die Hauptakteure und welche Instrumente sind notwendig, um eine nachhaltige Finanzierung für biodiversitätsfreundliche Maßnahmen in Städten zu gewährleisten?

Oliver HillelAus der Perspektive der Biodiversitätskonvention sind die Staaten die Hauptakteure, da sie über ein legislatives, exekutives und judikatives Mandat verfügen und ihre zentrale Rolle darin besteht, alle Sektoren zu führen. Die 196 Vertragsparteien der Biodiversitätskonvention haben bereits zehn Jahre Erfahrung mit der Umsetzung des damals als visionär geltenden Aktionsplans gesammelt, der durch den Beschluss X/22 verabschiedet wurde und vorsah, dass sich Städte, subnationale Regierungen und andere lokale Behörden engagieren. Die Urbanisierung wurde in den Bewertungen der Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) als zentraler „Nexus“ anerkannt. Jetzt soll der Edinburgh-Prozess, der erneut eine Vorreiterrolle unter den multilateralen Umweltabkommen spielt, dafür sorgen, dass alle Regierungsebenen im Hinblick auf den Rahmen für die Zeit nach 2020 zusammenarbeiten.

In der Biodiversitätskonvention wurde auch der Finanzsektor als Schlüsselakteur benannt. Er umfasst verschiedenste Akteure von multilateralen Institutionen über Zentralbanken bis hin zu Investoren und Rückversicherern und kann das Handeln aller anderen Sektoren lenken und einschränken. Zwei weitere kritische Gruppen von Stakeholdern, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft insgesamt, interagieren entscheidend mit dem Finanzwesen bei der Schaffung der Voraussetzungen für die Einführung von umwelt- und klimafreundlichen Konzepten. Das Sekretariat arbeitet nach wie vor mit Experten und Netzwerken, insbesondere den Spezialisten von ICLEI, an der CBD-Initiative zur Ressourcenmobilisierung, um Lösungen wie beispielsweise ökologischen Anleihen, Mischfinanzierungen und Steuerreformen zu entwickeln und zu verbessern.

In nationalen Biodiversitätsstrategien und Aktionsplänen (NBSAP) werden die Biodiversitätsziele eines Landes definiert. Für die Umsetzung müssen nationale und subnationale Regierungsebenen gut zusammenarbeiten. Wie können Projekte wie INTERACT-Bio dazu beitragen und die Umsetzung auf subnationaler und lokaler Ebene fördern?

Eine gesamtstaatliche Sichtweise und eine kluge Dezentralisierung von Kompetenzen bilden die Voraussetzung für die Umsetzung des Ökosystemkonzepts. Gleichzeitig sind diese Prinzipien der Rahmen für eine langfristige Mainstreaming-Strategie, die derzeit in der CBD zusammen mit ICLEI entwickelt wird.

In das INTERACT-Bio-Projekt sind bereits Lernerfahrungen eingeflossen, die mit dem ICLEI-Projekt „Local Action for Biodiversity“ seit 2006 gesammelt wurden. Außerdem nimmt INTERACT-Bio Bezug auf den 2010 verabschiedeten Aktionsplan. Jetzt gilt es, das Engagement auszuweiten. Die Projektpartner wollen ihre Erfahrungen in der CitiesWithNature Commitment Platform von ICLEI austauschen, die zur Unterstützung der „Sharm El-Sheik to Kunming Action Agenda“ der CBD entwickelt wird, um alle Vertragsstaaten und ihre lokalen und subnationalen Regierungen zu mobilisieren. Dadurch, dass das Sekretariat im Lenkungsausschuss des Projekts vertreten ist, soll unter anderem gewährleistet werden, dass die Lernerfahrungen aus dem Projekt in die regelmäßigen Gipfeltreffen eingebracht werden, die parallel zur CBD-Vertragsstaatenkonferenz stattfinden. So sollen Beispiele und Lernerfahrungen aus der IKI Gegenstand der Diskussionen auf dem Gipfel in Kunming sein.

Was ist bei der Entwicklung von lokalen Biodiversitätsstrategien und Aktionsplänen besonders zu beachten?

Bei den Verantwortlichen muss der politische Wille vorhanden sein. Außerdem ist entscheidend, wie sehr die Bürgerinnen und Bürger sensibilisiert sind. Wichtig sind auch die institutionellen Kapazitäten sowie der rechtliche, politische und programmatische Rahmen, in dem Städte, subnationale Regierungen und andere lokale Behörden arbeiten.

Im Zusammenhang mit der CBD kommt es vor allem darauf an, dass Strategien und Pläne unter Berücksichtigung aller Regierungsebenen entwickelt und umgesetzt werden. So gilt es, die auf kommunaler Ebene entwickelten Pläne in Landschaftsplänen zu verankern. Diese müssen in sinnvoller Weise mit den NBSAPs verknüpft werden. Diese müssen wiederum auf den Rahmen für die Zeit nach 2020, die SDGs sowie andere internationale Verpflichtungen wie Klima- und Landmanagement abgestimmt werden. Es ist jetzt unsere Aufgabe, dafür sorgen, dass das Global Biodiversity Framework (GBF) als Blaupause für die nächsten 30 Jahre entwickelt und umgesetzt wird. Daran müssen sich alle Regierungsebenen uneingeschränkt beteiligen, und zwar formell im Rahmen der Gesetzgebung, semi-formell beispielsweise auf kommunaler Ebene und informell zum Beispiel im Rahmen des People's Dialogue oder des Talanoa Dialogue.

Welche Faktoren sind entscheidend, um die Erfahrungen aus Projekten wie INTERACT-Bio auf andere Regionen und Städte zu übertragen und sie stärker in internationalen Prozessen zu verankern?

Um den GBF für die Zeit nach 2020 umzusetzen, müssen die Best Practices zusammen mit den für sie geltenden Voraussetzungen definiert werden, damit die gewonnenen Lernerfahrungen gezielt angepasst und ausgeweitet werden können. Wie können Lernerfahrungen von ICLEI und IKI mit ähnlichen Erfahrungen der Weltbank und der Globalen Umweltfazilität verknüpft werden? Diese Ansätze können durch eine längerfristige Präsenz in den derzeitigen drei Projektländern genutzt werden. Gleichzeitig lassen sich die Konzepte in anderen für die Biodiversität wichtigen Ländern replizieren wie China, Kolumbien, Südafrika. Konkret könnte es bei den nächsten Schritten darum gehen, die Lücken zwischen den NBSAP-Verpflichtungen und den lokalen Maßnahmen zur Erhaltung Biodiversität durch die Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen zu schließen. Gleichzeitig könnten Finanzierungsmechanismen entwickelt werden, die speziell für die lokale Umsetzung der NBSAPs geeignet sind. Zu den weiteren Maßnahmen zählen die Stärkung globaler Plattformen für den Wissens- und Erfahrungsaustausch wie die Partnerschaftsinitiative CitiesWithNature sowie die Förderung von Peer-Learning und Partnerschaften über das Internet, Austauschbesuche und Veranstaltungen.

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